Ist ChatGPT ein Sargnagel der IT-Branche?

Der Hype um ChatGPT ist enorm, die Untergangspropheten haben Hochkonjunktur und das Rad der Zeit webt wie das Rad will. Wir sind neugierig, skeptisch und zuversichtlich zugleich.

Es gibt kaum eine Branche, die so sehr und so schnell mit Veränderungen umgehen können muss wie die IT, speziell im Bereich Webentwicklung.

Täglich kommen und gehen Frameworks, Tools und Methoden, deren erklärte Ziele es sind, Zeit zu sparen, Kosten zu reduzieren, Fehlermengen zu minimieren, Prozesse zu automatisieren, Nutzererfahrung zu modernisieren und so weiter und so fort. Alles im Sinne einer schnellen, zielgerichteten, plattformübergreifenden, nachhaltigen Produktgestaltung.

Webentwicklung, insbesondere bei größeren, anspruchsvollen Projekten, ist mittlerweile so komplex und anforderungsreich geworden, dass es für einen einzelnen Programmierer fast unmöglich ist, sämtliche Funktionen und Bausteine einer Anwendung von Grund auf neu zu entwickeln – sofern nicht unlimitiertes Budget und/oder Zeit zur Verfügung steht.

Deshalb greifen auch wir, im Übrigen weniger aus Überzeugung als vielmehr aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, oft auf besagte Frameworks, Tools und Methoden zurück. Nur so können wir im Pool der IT-Dienstleister preislich konkurrenzfähig bleiben.

Diese Art der Software-Entwicklung, die sich in vielen Bereichen auf die Verwendung von Komponenten Dritter verlässt, bringt spezielle Herausforderungen mit sich.

Die Vorteile von Tools und Frameworks...

  • Es lässt sich viel Zeit sparen, weil die vorgefertigten Komponenten nicht neu entwickelt werden müssen. Typische Fälle sind etwa Login-/Account-Bereiche, Mediendatenbanken, Up- und Download-Skripte, Animationen, Formular-Module. Das sind Komponenten, die typischerweise in Web-Projekten eine Rolle spielen und in guter Qualität schon von anderen Menschen gebaut wurden, in aller Regel sogar quelloffen und kostenlos – warum also das Rad neu erfinden?
  • Auch Updates dieser Komponenten lassen sich in der Regel via Paketmanagement-Systemen schnell einspielen, in unseren Projekten kommen häufig Composer, NPM, PIP & Co. zum Einsatz.
  • Sofern man weit verbreitete und von Vielen getestete Module auswählt, ist auch die Wahrscheinlichkeit von Fehlern und Sicherheitslücken geringer, als wenn diese Komponenten von Grund auf selbst entwickelt würden. Selbst den erfahrensten unserer Code-Klopfer passieren mitunter derbe Schnitzer, wir sind alle nur Menschen.

... und ihre Nachteile:

  • Fertige Komponenten bezieht man aus externen Quellen, die, je öffentlicher und beliebter, größere Zielscheiben für so genannte Supply-Chain-Angriffe werden. Hierbei handelt es sich um Angriffe auf Infrastruktur und Repositories, die die darin enthaltenen Komponenten kompromittieren sollen. Nutzt jemand die verseuchten Module in seiner eigenen Software-Architektur, ist diese natürlich gefährdet. Und durch das verseuchte Produkt entwickeln sich dann auch potenzielle Schadensfälle bei den Kunden, die es einsetzen.
    Motive für solche Supply-Chain-Angriffe sind in der Regel Spionage, Erpressung oder Zerstörungslust, und sie kommen immer häufiger vor.
  • Die Verwendung externer Komponenten über Paketmanager sorgt zwar dafür, dass Installation oder Updates der Module sehr schnell und einfach funktioniert. Gleichzeitig verleiten diese Paketmanager aber dazu, Aktualisierungen leichtfertig und ungeprüft einzuspielen, kulminierend in der Auto-Update-Funktionalität von Wordpress, die Installationen im Produktivbetrieb ungeprüft auf dem aktuellen Stand zu halten versucht.
  • Wenn externe Komponenten Fehler oder unerwartetes Verhalten an den Tag legen, kostet die Analyse und Behebung der Probleme mitunter sehr viel mehr Zeit als das der Fall bei Eigenentwicklungen wäre – einfach, weil sich der Programmierer mit den externen Komponenten nicht auskennt.
  • Wer Frameworks wählt, bindet sich in der Regel langfristig, um starke Expertise zu erlangen – was letztlich zu einer starken Abhängigkeit führt.
  • Nicht zuletzt verlernen die Programmierer das Code-Schreiben: Wer immer nur mit Frameworks oder Modulen anderer arbeitet, setzt sein Gehirn zunehmend einer Entwicklungsatrophie aus. Wer nicht einmal eine Login- oder Formularfunktion von Grund auf konzeptioniert und selbst entwickelt hat – ohne spezielle Frameworks oder andere Hilfswerkzeuge, wird sich schwer tun, die Prinzipien und die Programmierung anderer nachzuvollziehen und, noch wichtiger, deren Sicherheit oder Qualität zu beurteilen.

Warum schreibe ich das jetzt alles im Kontext von ChatGPT? Weil sich aus meiner Sicht hier relevante Parallelen auftun – sowohl für uns als Branchenteilnehmer im Bereich der IT-Dienstleistungen als auch für die Gesellschaft als Ganzes.

Der Hype um ChatGPT

Frameworks, Paketmanagement & Co. sind zu einem integralen Bestandteil der Software-Branche geworden. Sie nehmen Arbeit ab, sparen Zeit und bieten im besten Falle fertige Lösungen für typische Aufgabenstellungen in der Programmierung. Aber sie bringen eigene Herausforderungen mit sich, und sie ersetzen den Menschen nicht, sie verändern nur seine Rolle. Und so wird es sich aus meiner Sicht auch mit Plattformen wie ChatGPT verhalten.

Wer noch nicht weiß, was es mit ChatGPT auf sich hat: Es handelt sich um eine webbasierte Plattform, die man über einen handelsüblichen Browser ansteuern kann. Auf dieser Plattform gibt ein komplexes Programm Antworten auf Fragen buchstäblich aller Art. Das Programm ist mit einer enorm umfassenden Datenbasis ausgestattet – bestehend aus Quellen quer aus dem gesamten Internet – sodass auf nahezu alle Fragen mehr oder weniger sinnvolle und korrekte Antworten generiert werden können. Diese Antworten werden zudem so strukturiert, priorisiert und formuliert, dass auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, ob die Rückmeldung maschineller oder menschlicher Herkunft ist. Und stellt man zwei Mal die gleiche Frage, kommen keine identische Antworten, sondern Varianten mit anderen Formulierungen und inhaltlicher Gewichtungen. Mehr über ChatGPT kann man hier nachlesen.

Von befreundeten Agenturen und Freelancern hören wir, dass sie ChatGPT bereits in ihre Geschäftsmodelle integriert haben, um Kosten und Zeit zu sparen. Beispielsweise ist die Plattform in der Lage, Texte zu produzieren, die man im Rahmen klassischer Content-Produktion für Websites und Blogs nutzen kann.

Auch Kollege Keller konnte sich dem Zauber nicht entziehen und hat einen Logbuch-Eintrag zum Thema PWA auf der intercorp-Website teilweise vom Bot generieren lassen.

Bei einem simulierten Bewerbungsgespräch hat ChatGPT offenbar dermaßen viel Fachwissen demonstriert, dass Google einen vergleichbar kompetenten menschlichen Kollegen als gut bezahlten Engineer einstellen würde.

ChatGPT im Kontext unserer Arbeit

Auch wir bei intercorp überlegen, wie wir uns die Fähigkeiten einer Plattform wie ChatGPT zunutze machen können.

Naheliegende, konkrete Fragestellung ist: Wir entwickeln Konzepte und Software, um Digitalisierung in KMU zu etablieren und weiter zu entwickeln – wie kann uns eine Plattform wie ChatGPT bei diesen Aufgaben unterstützen?

Manche Unken orakeln bereits den Untergang des Berufszweigs der Programmierer herbei. Und den des Grafikers oder Designers. Und den des Redakteurs. Und den des Administrators. Und und und…

Wir sehen die Sache etwas weniger düster und betrachten die Entwicklung aus Sicht unserer Kunden, im Hinblick auf ihre Bedürfnisse und den Projekten, an denen wir teilhaben.

Für uns ist ChatGPT bestenfalls ein durchaus hilfreiches Werkzeug, das in einem vergleichbaren Umfang wie Frameworks oder Bibliotheken Potenzial hat, Aufwände in manchen Bereichen zu reduzieren und dafür mehr Raum für andere Aufgaben zu schaffen.

Beispielsweise ist ChatGPT in der Lage, Vorschläge für Programmiercode in verschiedenen Sprachen zu liefern, die bestimmte Aufgabenstellungen abdecken. Auch bei Einarbeitung oder Recherchen in bestimmten Themenbereichen, bei der Erfassung von Kontexten und Alternativlösungen kann die Plattform sehr hilfreich sein.

Die Voraussetzung ist jedoch stets, dass man als Nutzer von ChatGPT in der Lage ist, die richtigen Fragen zu stellen.

Ein typisches Kunden-Projekt, in dessen Rahmen wir Software-Lösungen entwickeln, entsteht durch zwischenmenschlichen Kontakt. Einer unserer Kundenberater geht auf potenzielle Klienten zu (oder umgekehrt) und man kommt ins Gespräch. Es wird von Problemen, Schmerzen, Wünschen, Zielen berichtet, in aller Regel im Kontext von Arbeitsabläufen, in die Menschen involviert sind. Jedes Unternehmen, jeder Mitarbeiter tickt unterschiedlich, Prozesse sind verschieden, die Schnittstellen vielfältig, die Prioritäten anders gelagert.

Maschinen verstehen Menschen nicht so wie Menschen es können. Unsere Rolle als IT-Dienstleister ist und bleibt primär, Menschen und Prozesse zu verstehen, Bedürfnisse zu ermitteln, Wünsche herauszukitzeln oder zu hinterfragen, Aussagen richtig zu interpretieren, auf Zwischentöne, Gesten, Ausdrücke zu achten.

Aus den gewonnenen Erkenntnissen entwickeln wir Konzepte und Architekturen, die menschliche Bedürfnisse erfüllen. Mit welchen Mitteln, Sprachen oder Werkzeugen die ermittelten Ziele letztendlich erreicht werden, war und wird immer zweitrangig bleiben. Im Mittelpunkt bleibt der Mensch, dem die Technik dienen und das Leben erleichtern soll.

Veränderung ist unausweichlich

Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir zukünftig noch weniger Code schreiben als bisher, weil diese Detailarbeit von neuen Werkzeugen wie ChatGPT, Github Copilot oder anderen Plattformen übernommen wird. Aber es muss immer Menschen geben, die die richtigen Fragen stellen und Anforderungen so formulieren können, dass Werkzeuge und Plattformen hilfreiche Unterstützung bei der technischen Umsetzung leisten können. Denn das Fachwissen von Chatbots geht gegen unendlich, ihre Fähigkeit zu Empathie und Interpretation jedoch gegen Null.

Deshalb sehen wir unseren Berufszweig und die IT-Branche im Allgemeinen überhaupt nicht in Gefahr – im Gegenteil: Die Expertise, so genannte künstliche Intelligenzen richtig einzusetzen und einzuschätzen, wird an Bedeutung gewinnen.

Die Kernkompetenz von intercorp war und bleibt die Entwicklung von ganzheitlichen IT-Konzepten mit dem Mensch als Mittelpunkt. Deshalb sind wir auf absehbare Zeit nicht durch eine „künstliche Intelligenz“ ersetzbar.

ChatGPT als Problem

Gefahr droht aus meiner Sicht an anderer Stelle: Wenn Menschen sich an Werkzeuge wie ChatGPT gewöhnen, diese in ihren Alltag integrieren, ihnen zunehmend blind vertrauen und nichts mehr hinterfragen oder wichtige Informationen via externen Quellen nachprüfen, dann haben diese Plattformen ein Missbrauchspotenzial, das alle gegenwärtig etablierten Suchmaschinen und alle SocialMedia-Skandale in Sachen Meinungsmanipulation um ein Vielfaches übertrifft.

ChatGPT kann Informationsquellen nicht preisgeben, weil die Plattform sie selbst nicht mehr klar identifizieren kann. Die Info-Fragmente aus völlig unterschiedlichen Quellen werden zu einem Brei aus vermeintlichen Fakten, Meinungen und Anekdoten vermengt, dessen Wahrheitsgehalt wiederum von schlecht bezahlten Drittewelt-Tagelöhnern unter miserablen Bedingungen bestmöglich kuratiert und verifiziert werden muss.

Dass Google binnen Sekunden rund 100 Milliarden Dollar an Wert verliert, weil der hauseigene, etwas übereilt in die Öffentlichkeit geschubste ChatGPT-Konkurrent „Bard“ im ersten öffentlichen Werbespot eine falsche Information abliefert, ist da eher ein absurde Randnotiz.

Weitere Kapitalismuskritik beiseite gelassen: Ohne Menschen geht es nicht, ohne wissenschaftliches Arbeiten geht es nicht. Das dürfen wir nicht vergessen und nicht verlernen.

Dieser Logbuch-Eintrag ist übrigens zu 100% aus menschlichen Hirnzellen generiert worden.